Realität vs. Instagram oder mein neuer Alltag als Digitaler Nomade
Als ich im Oktober 2015 losgezogen bin, um unterwegs zu arbeiten, hatte ich den Plan über jeden Ort zu berichten. Wie es mir dort gefallen hat, was ich erlebt habe, wie ich dort arbeiten konnte.
Geschafft habe ich es genau einen Artikel zu verfassen – über meine Zeit in Marokko.
Seitdem liegen einige Entwürfe auf meinem Laptop, aber kein Artikel wurde so ganz fertig. Deshalb habe ich mich jetzt entschieden, meine Erfahrungen und Eindrücke, der ersten Monate als sogenannter Digitaler Nomade, in einem Artikel zusammenzufassen.
Du hast doch immer Urlaub
Der Winter und deutsche Feiertage lassen sich in der Ferne ganz gut vergessen.
So fühlten sich für mich auch die Weihnachtstage auf Bali so gar nicht nach Weihnachten an, bis dann nach und nach die Weihnachtsgrüße per Messenger und Whatsapp von den deutschen Freunden eintrafen.
Als ich dann auf die Frage “Und wie feierst Du Weihnachten?” antwortete: Gar nicht, ich sitze im Coworking und arbeite bekam ich als Antwort. “Ach, Arbeit. Das heißt doch bei Dir du sitzt in einer Strandhütte, nuckelst an einer Kokosnuss und tippst ab und zu mal auf dem Laptop”.
Nach einigen Gesprächen musste ich dann feststellen, dass tatsächlich viele meiner Bekannten der Ansicht sind, so sehe das Leben als sogenannter “digitaler Nomade” aus. Und zugegeben, unsere Facebook und Instagram Accounts lassen diesen Eindruck durchaus auch aufkommen. Auch ich poste sehr gerne Fotos vom Strand oder Pool und besonders gerne mit Kokosnuss dazu. In Bali gab es die Kokosnuss praktischerweise auch gleich im Coworking. Da musste man also für das tolle Facebook Bild noch nicht mal den Schreibtisch verlassen.
Und überhaupt verlassen die meisten digitalen Nomaden oder ortsunabhängigen Unternehmer den Schreibtisch viel zu selten. Auch nicht, wenn der Schreibtisch aus Bambus ist und nur 3 Minuten von einem traumhaften Strand entfernt steht.
Es gibt sie natürlich, die ortsunabhängigen Unternehmer, die nur wenige Stunden pro Woche arbeiten müssen um Ihr Business am Laufen zu halten. Vor allem wenn man sich ein passives Einkommen aufgebaut hat und so auch Einkommen hat, während man eben nicht am Rechner sitzt.
Davor steht allerdings meistens eine Zeit harter Arbeit und viel Mühe. Mal eben ein Blog und einen online Kurs erstellen und zack ist das passive Einkommen da – so einfach funktioniert es (in der Regel) leider nicht.
Ortsunabhängig arbeiten ist eben keine Urlaubsreise.
Je nachdem wie viel und auch wie gerne der Einzelne arbeitet, sehen einige von dem Land in dem sie sich aufhalten wenig bis gar nichts. Auf die Frage nach dem Lieblingsort in Chiang Mai habe ich vor kurzem eine Reihe ortsunabhängiger Entrepreneure sagen hören “Die Shopping Mall und das Coworking dort, mehr habe ich auch in den zwei Monaten hier nicht gesehen”.
Und auch das ist ok.
Es ist eben ein Ort, an dem man zu sehr niedrigen Lebenshaltungskosten an seinem Business arbeiten kann. Und eben ab und zu mal ein Bild mit Kokosnuss am Pool machen.
Jeder muss beim Start in das Leben abseits von festem Wohnort und Bürozeiten auch erst einmal seine Balance finden. Zwischen etwas von dem Land sehen, in dem man gerade ist, den Strand geniessen und neue Erfahrungen machen – aber gleichzeitig sein Business am Laufen halten oder weiter ausbauen. Und oft geht eben beides gleichzeitig nicht.
Warum reist du dann überhaupt? Da kannst du doch auch zuhause bleiben.
Auch das ist eine Frage, die ich dann oft gestellt bekomme. Warum reist du dann überhaupt, wenn du dann den ganzen Tag im Büro sitzt und arbeitest?!?
Nun – weil ich eben so, nicht nur 10 Tage an einem Ort bleiben kann, sondern einen Monat. Dadurch kann ich dann täglich den Sonnenuntergang am Strand sehen, in einer Arbeitspause einfach mal eine Massage genießen und an einem freien Nachmittag eine Bootstour machen oder einen Tempel besichtigen.
Vielleicht sieht ein Pauschaltourist in zehn Tagen mehr Sehenswürdigkeiten als ich in einem Monat.
Dafür mache ich andere Erfahrungen, wenn ich einen Monat oder länger an einem Ort bleibe und eine Routine entwickle. Da hat man schnell die Laundry Frau, erste Bekanntschaften beim Sport und vor allem auch die Coworker kennengelernt.
Man trifft spannende Menschen. Selbst wenn man eben den größten Teil des Tages “nur” am Schreibtisch nebeneinandersitzt und in die Bildschirme starrt.
Aber genau wie früher, trifft man sich auch hier dann mal am Kaffeeautomaten und redet. Nur trifft man auf Reisen eben nicht immer die gleichen Menschen mit den gleichen Jobs, sondern Leute aus aller Welt. Mit spannenden Geschichten, Jobs und Unternehmen.
Und schon die zwei Stunden nach Feierabend, welche ich dann mit lieben Menschen an einer Strandbar auf Ko Lanta, einer Dachterrasse in Chiang Mai oder beim Yoga auf Bali verbringen kann, sind die Reise wert.
Ich genieße dabei auch einfach den anderen Alltag, welchen man eben in der Ferne hat.
Die kleinen Gespräche mit den Menschen vor Ort, die sich entwickeln, wenn man eben einen Monat immer wieder in das gleiche Café zum Frühstücken geht, seine Wäsche am gleichen Ort abgibt und im gleichen Supermarkt einkauft.
Dadurch habe ich auch immer wieder Menschen kennengelernt, die an den Orten leben und durfte ein bisschen an deren Leben teilhaben.
Zeit zu reisen und Zeit zu arbeiten
Meiner Beobachtung nach gibt es bei den meisten Nomaden Phasen, in denen das Reisen und Entdecken mehr im Vordergrund steht und Phasen, in denen die Arbeit den vollen Fokus bekommt.
Beides gleichzeitig verursacht meist nur Stress.
Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht, als ich in Chiang Mai ankam. Bewaffnet mit langen Listen voller “Must Sees” und Highlights und viel Arbeit, musste schnell feststellen – beides funktioniert einfach nicht.
Ich kann nicht effizient 8 Stunden am Tag arbeiten und gleichzeitig alle schicken Cafés & Restaurants testen, Tempel besichtigen und ganz nebenbei noch Sport machen, Freunde treffen und Kontakt mit zuhause halten.
Von der großen Liste an Sehenswürdigkeiten und Erlebnissen, die ich in meiner Zeit in Chiang Mai abarbeiten wollte, habe ich nur wenig geschafft.
Dafür hatte ich aber einige wirklich unvergesslich schöne Tage und Erlebnisse. Aber auch gerade am Anfang ziemlich viele Frustmomente.
Der Start ins Nomadenleben in der Nomadenstadt schlechthin: ein Traum! So dachte ich zumindest. Bis dann direkt das Internet in meinem Apartment einfach mal überhaupt nicht funktionierte, ich feststellen musste, dass auch in den meisten Cafés es gerade mal für ein bisschen Email senden und Websurfen reicht, ich ohne Roller nur wenige Coworking Spaces erreiche und es dazu noch ziemlich frustrierend ist, den ganzen Tag in von den Klimaanlagen eiskalten Räumen zu sitzen, um seine Arbeit fertig zu bekommen.
Von diesem Perfektionismus und Druck muss man sich erstmal freimachen und die für sich beste Methode finden. Bei einigen bedeutet das, ein paar Tage “arbeitsfrei” machen, ankommen und entdecken.
Für mich habe ich festgestellt, funktioniert es anders rum besser: Erst mal die Routine finden.
Wo bekomme ich morgens meinen Kaffee?
Wo kann ich gut arbeiten?
Wo Wäsche waschen und wo zum Sport?
Wenn diese Grundbedürfnisse stehen, dann kann ich auch mal entspannt einen Nachmittag auf Entdeckungstour gehen. Das hat aber auch bei mir noch eine ganze Weile gedauert. In Chiang Mai habe ich dann mein zuhause im Mana Coworking gefunden. Ein wunderbares kleines Coworking wo man den ganzen Tag liebevoll mit Tee und Wasser versorgt wird, das Internet stabil ist und man nicht groß von der Arbeit abgelenkt wird.
Loslassen lernen
Meine ersten zwei Wochen auf Bali in Ubud waren wohl die unproduktivsten, die ich im ganzen Jahr hatte.
Andauernd ist das Internet ausgefallen. Es gab keinen Strom. Die Verbindung wurde im Laufe des Tages so langsam, dass Arbeiten unmöglich war.
Doch eins hatte sich da schon geändert: Ich bin gelassener geworden.
In diesem Momenten habe ich dann eben den Rechner zugeklappt und bin zum Yoga gegangen.
Die zweite Hälfte des Monats war ich dann im Dojo in Canggu und habe dort alles an Produktivität wieder aufgeholt. Dafür war ich nicht beim Sport und habe nichts von der Umgebung gesehen.
Gerade, wenn man beginnt, ortsunabhängig zu reisen würde ich jedem den Ratschlag geben nicht zu schnell unterwegs zu sein.
Bleibt an einem Ort, findet heraus, wie ihr am besten Arbeit und Reisen unter einen Hut bekommt und setzt dann diese Erkenntnisse an den nächsten Orten um.
Während ich in Chiang Mai und Bali zu Beginn noch sehr gestresst war meine Arbeit und die Entdeckerlust zu vereinen, bekomme ich das jetzt immer besser hin.
Auf Koh Lanta wollte ich eigentlich nur 3 Wochen bleiben. Ursprünglich war der Besuch dort gar nicht eingeplant. Aber auch das habe ich unterwegs gelernt: Pläne sind dafür da geändert zu werden.
Ich war auf Bali nicht wirklich glücklich und bin deswegen ziemlich spontan am Silvestertag abgereist. Ich habe eine Nacht am Flughafen von Kuala Lumpur verbracht – auch etwas was ich mir noch vor einem Jahr nie habe vorstellen können – um dann übermüdet aber vollkommen glücklich Silvester an einem tropischen Strand zu verbringen.
Das Kohub ist ein wunderbarer Ort zum Arbeiten. Und der Alltag dort so einfach.
Von allen Orten in denen ich während der letzten Monaten unterwegs war, hatte ich dort schnell einen wunderbaren Alltag: Über den Strand ins Coworking gehen. Die erste Runde Arbeit absolvieren, zum Sport, nochmal arbeiten und zum Sonnenuntergang an den Strand.
Ich habe 7 Tage die Woche meist bis spät abends im Coworking gesessen und gearbeitet. Demzufolge habe ich wenig von der Insel gesehen. Aber: Ich habe mich deswegen nicht mehr gestresst. Und war auch abends im Kohub in guter Gesellschaft.
Ich fand es einfach grandios an einem so traumhaften Ort arbeiten zu können. Ich bin deutlich entspannter geworden und habe mich nicht damit unter Druck gesetzt, dass ich unbedingt alle Ausflüge und Erlebnisse mitnehmen muss. Ohne Druck bin ich dann auch insgesamt fast 2 Monate geblieben.
Und wann kommst du wieder nach Hause? Und wie geht es weiter?
Die Frage habe ich oft gehört. Vor allem, nachdem ich meine Pläne immer wieder geändert habe. Eigentlich wollte ich Anfang März zurück nach Teneriffa gehen. Jetzt haben wir Anfang Juli und ich sitze in einem Büro in Berlin und bin erst Mitte April aus Bangkok zurückgekommen. Ich freue mich darauf für eine Weile nach Teneriffa zurückzugehen (auch wenn es dort leider keine Kokosnüsse gibt).
Nein, ich vermisse kein Zuhause.
Ich weiß, dass länger an einem Ort bleiben meiner Produktivität gut tut. Aber für den Moment brauche ich dazu kein eigenes Heim. Ich finde es schön flexibel zu sein und an den Orten arbeiten zu können, an denen ich möchte und das am liebsten noch mit wunderbaren Menschen.
Was ich aus den letzten Monaten gelernt habe, ist vielleicht vor allem, dass Heimat gar nicht so sehr ein Ort ist, sondern die Menschen die einen umgeben.
Jenny says
Hach, du sprichst mir aus der Seele….und ich kann fast alles genau so auch unterschreiben!
Das einzige was ich, glaube ich zumindest, mehr bedauere wie du, ist das man letztlich doch viel mehr gearbeitet und viel weniger gesehen hat. Auch wenn ich durchaus die Vorteile darin ähnlich sehe wie du…aber ich find’s trotzdem schade. Manchmal hab ich eben schon das Gefühl ich hätte „nicht genug“ aus meiner Zeit auf Ko Lanta, Bali, Chiang Mai etc. gemacht. Aber wenn man sich’s genau überlegt, ist das auch kein Drama…man kann ja jeder Zeit zurück kehren und das nachholen 😉
Vera Ruttkowski says
Eben – das denke ich auch. Muss man eben öfter mal wieder hin und so Stück für Stück alles ansehen und machen was man auf der Liste stehen hat 😉
Steffi says
Ein sehr schöner Bericht. Es gibt ja immer mal wieder Leute, die über das Thema schreiben ala digitales Nomadentum ist nicht das Strandleben, aber hier konnte man schön nachvollziehen, welche Alltagsschwierigkeiten da mit reinspielen.
Wünsche dir weiterhin entspannte Reisen, mit dem richtigen Maß an Routine, Strand und Tempeln 🙂
Lg Steffi
Vera Ruttkowski says
Vielen Dank Steffi. Ich denke mit der Zeit lernt man immer besser seine Routinen auch unterwegs hinzubekommen 🙂
Jürgen says
Liebe Vera,
schön wie du den Alltag als Nomadin beschreibst, ich kann jeden Punkt bestätigen, auch wenn wir noch nicht so weit rum gekommen sind wie du.
Für uns geht es jetzt erstmal für 2 Monate nach Italien, dann schauen wir weiter.
Hab eine tolle Zeit und ich freue mich bald wieder von dir zu lesen.
Liebe Grüße aus Österreich,
Jürgen
Vera Ruttkowski says
Vielen Dank Jürgen. 2 Monate Italien klingt auch garnicht schlecht. Genießt es!